Zum Lebensgefühl der 1960/70er Jahre 

Nicht nur, dass es die Zeit meiner Jugend war (ich bin 1950 geboren), es war auch in der Tat eine ganz besondere Zeit der Erneuerung. Die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges waren weitgehend überwunden und der Zeitgeist geprägt von einer dynamischen, grenzenlosen Aufbruchstimmung. Die Pilzköpfe (Beatles) aus Liverpool, England wurden zum Idol einer neuen Männlichkeit. Wer keine Mähne trug, sondern noch kurzgeschorren über die Strasse lief, der war noch unter den Fittichen der (spießbürgerlichen) Eltern und Lehrer und gehörte noch nicht zur neuen Generation. Die Norm war, dass die Strähnen die Ohren zur Gänze, sowie Stirn und Augen wie ein Harnisch bis auf einen kleinen Schlitz bedecken mussten. So bildeten sich in Abwendung von den tradierten, konventionellen Normen, neue Werte heraus, die die neue Freiheit und das neue Zeitalter der Nachkriegsgeneration etablieren sollten.

Die Aussage der Beatles, sie seien bei der Jugend bekannter als der Papst, führte zu einer Ächtung durch den Vatikan, die erst 40 Jahre später aufgehoben und dem "jugendlichen Leichtsinn" zugeschrieben wurde. Dabei war diese Aussage keineswegs abwegig, denn der Popularitätsgrad der Beatles bei der damaligen Jugend, die die engen Grenzen von Kirche und vielfach gesellschaftlicher Doppelmoral sprengen wollte, war augenscheinlich höher als der des Papstes und den damals proklamierten Werten diametral entgegengesetzt. Die Beatles verkörperten ungeingeschränkt Werte wie Freiheit, Toleranz und Liebe ("All you need is Love").

Einen Höhepunkt dieser Bewegung symbolisierte wohl das Magafestival in Woodstock (Bethel, USA, Bundesstaat New York) im August 1969, das alles Bisherige an Musikevents in den Schatten stellte (32 Bands und Solisten der Musikrichtungen Folk, Rock, Soul und Blues mit über 400.000 Besuchern). Der Slogen: one world - one music.

Der Traum von der "vereinten, friedlichen Welt" schwabbte durchaus auch auf die Politik über und zeigte sich in Europa sogar hinter dem "Eisernen Vorhang" im Rahmen der Demokratisierungs- und Liberalisierungs- Bewegung des "Prager Frühlings". Das Ziel des slowakischen KP-Chefs Alexander Dubcek war es, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen. Dubcek hatte nicht nur den Menschen seiner Heimat, sondern ganz Europa Hoffnung gegeben. Es wurden Reformen eingeleitet, die in Richtung Meinungs- und Versammlungsfreiheit und Liberalisierung der Planwirtschaft gingen sowie die Zensur abgeschafft.

Allerdings war diese Bewegung hinter dem "Eisernen Vorhang" offenbar noch zu früh. Die kommunistischen "Bruderstaaten" des Sowjetunion, Bulgarien, Polen, Ungarn und DDR befürchteten, dass dieser "tschechoslowakische Bazillus" auch andere Länder des "Ostblockes" anstecken könnte. Mit rund 700.000 Soldaten wurde dieser Reformprozess in der Nacht zum 21. August 1968 von Panzern des "Warschauer Paktes" buchstäblich niedergewalzt. Bei der brutalen Aktion starben bis Ende 1968 mehr als 100 Menschen, 500 Zivilisten wurden schwer verletzt. Tausende wanderten aus. Rund 210.000 Menschen fanden 1968/69 in Österreich Zuflucht. Ich war damals in der Gilde der Jungmänner, die gerade ihren Einberufungsbescheid zum Militärdienst erhalten hatten und wir warteten gespannt, wie sich die Lage an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei, die von unserem Wohnort im Mühlviertel nur etwa 30 Kilometer entfernt war, entwickeln würde. Die ältere Generation lebte eine zeitlang in Angst, dass die Russen auch über die Grenze bis zur Donau vorrücken könnten. Unser Eltern hatten ja das Trauma der 10-jährigen russischen Besatzungszeit nach dem zweiten Weltkrieg noch markant in den Knochen. Es sollte noch zwanzig Jahre dauern, bis sich der Traum eines "freien", vereinten Europas durch den Fall der Berliner Mauer 1989 realisierte und damit der lange Schatten des kalten Krieges nach Ende des zweiten Weltkrieges auflöste.

Leider verlief auch im Westen die "Abrechung mit dem Establishment" im Sinne der "68er-Bewegung" nicht nur friedlich via Kunst, Musik und Flower Power: Sie brachte auch kriminelle Elemente hervor, etwa in Deutschland die "Baader-Meinhof-Bande" bzw. die "Rote-Armee-Fraktion" (RAF), die von 1968 bis 1998 eine lange Spur an Gewaltverbrechen zog.

Die "68er-Bewegung" war nicht, wie der Begriff möglicherweise irreführend andeutet, eine (einheitliche) Bewegung mit einem einheitlichen Ziel, sondern eine mehr oder weniger bunte Dynamik von verschiedenen Strömungen, primär ausgehend von jüngeren intellektuellen Schichten (daher auch als "Studentenbewegung" bezeichnet), die gegen die herrschenden Normen im sozialen, kulturellen und politischen Bereich protestierten. Ein Funke, der mehr oder weniger zeitgleich in der gesamten westlichen Welt ein mächtiges Feuerwerk an Aktivitäten entfachte. Der Höhepunkt der Proteste, die sich seit Anfang der 60er Jahre aufbauten, fiel auf das Jahr 1968, woher auch der Name der Bewegung(en) kommt.

Auch wenn ich persönlich, am Land aufwachsend, die Dynamik der "68er-Bewegung" nur mehr oder weniger indirekt erfahren habe, so waren doch die ständig dröhnenden Jukeboxen (Wurlitzer Musikbox = schrankartiger Plattenspieler mit Münzeinwurf und Tastenfeld zur Plattenvorwahl) in den Gaststätten sowie die vielen jungen Bands auf den provisorischen Bühnen am Land Träger dieser mächtigen Bewegung, die eine neue Zeit, jenseits des "Establishment", fern aller Konventionen symbolisieren sollte. Der Kinsey-Report und diverse "Aufklärungsfilme" machten die Runde, Präservativ- Automaten wurden in den Toiletten der Lokale montiert und der geflügelten Slogen: "Wer zweimal mit der-/demselben pennt, gehört schon zum Establishment" sollte die "Sexuelle Revolution" einläuten. Dennoch blieb der Sex in unserer Gegend überwiegend an Paar- und Liebesbeziehungen gebunden als dass er völlig frei und wild ausgelebt wurde. Aber er wurde jedenfalls weitgehend von Tabus und dem Makel der "Sünde" befreit. In den Zeitschriften erschienen die ersten Pin-up-Fotos, die Mini-Röcke rutschten erstmalig in der Geschichte in ungeahnte Höhen und brachten nicht nur bislang unbekannte Einblicke sondern auch die Hormone der jungen Männer - und nicht nur dieser - mächtig in Wallung. Jedes Wochenende war gefüllt mit Musik- und Tanzveranstaltungen.

Mit 15 fuhr ich mit dem Moped auf Seitenstrassen und Feldwegen von Tanzveranstaltung zu Tanzveranstaltung, von Disco zu Disco. Ab 18 mit Vaters Auto, das ich im Morgengrauen mit abgestelltem Motor und ohne Licht in die Garage rollen lies, damit die Eltern mein spätes Nachhause kommen nicht mitbekommen sollten - was selten erfolgreich war. Mit 20 kaufte ich mir dann um 1.000,- Schilling (72 Euro), meinem ersten ersparten Geld, ein eigenes "Auto", einen zehn Jahre alten "Puch 500" - etwa in der Größe eines "Mopetautos". Damit war ich gänzlich unabhängig. Drei Jahre später einen acht Jahre alten "NSU Prinz" - nicht viel größer, aber für damalige Begriffe schon richtig "sportlich".

Mein Erleben und mein Lebensgefühl der späten 60er und frühen 70er Jahre war nicht von (politischen) Krawallen und Protestaufmärschen gekennzeichnet, sondern vielmehr getragen von einem Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit - jenseits aller Sorgen und Zukunftsängste. Als ich mit 19 das Elternhaus nach einem Konflikt mit dem Vater verlies, hatte ich am übernächsten Tag woanders eine Arbeit. Als ich mit meinem ersten erlernten Beruf nicht mehr zufrieden war, lernte ich eben einen zweiten und ich hatte sofort einen Job. Es ging alles wie von selbst, wie von Zauberhand.

Ich sehe es als ein grosses Glück, dass ich meine Jugend und das junge Erwachsenenalter in dieser wunderbaren, unbeschwerten, sich wie eine Blüte öffnenden Zeit erleben durfte, auch wenn mir das erst im Rückblick offenbar wird - ganz im Sinne von Sören Kierkegaard: Das Leben wird vorwärst gelebt und rückwärts verstanden. Ich kann dieses wunderbare Lebensgefühl, das ich damals inhalieren durfte als kraftvollen, lebendigen Teil meines Selbst, jederzeit via Musik und Erinnerung wachrufen. So dass ich ganz im Sinne eines Songs von Paul Simon sagen kann: Burn at the rigth Time!